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äußere Umwelt hat seitdem eine ganz neue Gestalt und Bedeutung für mich gewonnen. Was im besonderen meine bewußte Eingliederung in die Kirche, meine Teilnahme an Wissenschaft, Kunst, Literatur, an gesellschaftlichen, vaterländischen, staatlichen Gütern und Aufgaben bedingte und bedingt, das alles scheint mir in seinen ersten charakteristischen Anfängen irgendwie mit dem Cage verbunden zu sein, an dem Tage zu keimen und zu sprossen, an dem im Spätsommer des Jahres 1861 das gewaltige Dröhnen und Klingen der Domglocken in Verden mir als Gymnasiasten zum letzten Male die Ohren füllte und das Herz bewegte.

Ist das aber irgendwie nicht immer der fall? Wird nicht der Übergang vom Jünglingsalter ins erste Mannesalter in dem Lebenslaufe jedes Menschen einen tiefen Einschnitt hinterlassen und einen einzigartigen Meilenstein aufrichten? Wird dies nicht in verstärktem Maße der Fall sein, wenn jener Übergang eben in die Studienzeit fällt? Dann macht sich doch auch wohl immer der Eindruck geltend, daß eine alte Welt zurückgedrängt, zu den Toten gelegt werde und daß eine neue, andauernd lebende Welt heraufsteige! In einem bestimmten, beschränkten Maße ist das gewiß der fall. Aber ich glaube, mich nicht zu irren in der Annahme, daß mit dem Anfange der sechziger Jahre im letzten Jahrhundert eine in außergewöhnlichem Maße neue Periode auf nahezu allen Lebensgebieten zunächst in meiner engeren Heimat Hannover, dann auch in unserm ganzen Vaterlande ihren Anfang nahm. Manche Altersgenossen und Landsleute werden, wie ich zu vermuten wage, denselben Eindruck empfangen, und im Vergleich mit späteren Lebensabschnitten seine hervorragende, überragende Bedeutung und Einzigartigkeit stets von neuem bestätigt gefunden haben.

Es war daher unmöglich, meine Studentenzeit einigermaßen lebenswahr zu schildern, wenn ich nicht zugleich auf diese sehr tiefgreifenden Veränderungen und Erschütterungen einging. Sie haben mich eben auch persönlich zu stark berührt und beeinflußt, als daß ich mit Stillschweigen darüber hinweggehen konnte. Um nur eins, allerdings die Hauptsache, hervorzuheben, so stand nach meinem unverändert bis jetzt festgebliebenen Eindruck meine Kindheit und erste Jugend wissentlich und un

wissentlich unter dem Einfluß der Autorität, die bei mir, in meiner Umgebung, im öffentlichen Leben trotz mancher Widerstände zuletzt doch alles unter sich beugte. Dies war die ursprüngliche Autorität *) Gottes und die abgeleitete menschliche Autorität auf Grund des vierten Gebotes in seinem ganzen Umfange und seiner Tiefe. Was im Jahre 1848 diese Autorität angegriffen und erschüttert hatte, schien, abgesehen von einer bestimmten Preffe und von bestimmten Vereinen, ganz wieder zurückgetreten zu sein und übte jedenfalls in dem Gesichtskreise, der mir offen stand, keinen beachtenswerten Einfluß mehr aus. Um den Anfang der sechziger Jahre indessen wurde dies anders; und der Beginn jener neuen Periode kennzeichnet sich mir wesentlich darin, daß nun an die Stelle der Unterordnung unter die Autorität die freie Selbstbestimmung, an die Stelle des Gebundenseins an höhere fittliche Gewalten und daraus erwachsene Grundsäke nunmehr Ideen traten, die jede Bindung als Knechtung fühlten und verschmähten.

Wie weit ist aber Geist und Gemüt eines einzelnen empfänglich für die Aufnahme, geschickt und berufen für das Wiedergeben solcher tiefdringenden und weitreichenden Veränderungen? Die Beantwortung dieser Frage hat mir viel Not gemacht. Sie hängt selbstverständlich von der sachgemäßen Erledigung mancher schwieriger Dorfragen ab. Unter allen Umständen ist dabei die Natur der Dinge, um die es sich handelt, und die Natur des Menschen, der sie erlebt und darstellt, immer im Auge zu behalten. Das Ergebnis wird dann wohl ein reichhaltiges, aber ebenso gewiß von engen Grenzen eingeschlossen sein, die nur mit Unrecht überstiegen werden können. Ist es nun möglich und geraten, aus einem Kreise von Eindrücken, die, an sich genommen, wahr Find und denen eine gewisse Reichhaltigkeit nicht abgesprochen werden mag, die aber jedenfalls sehr individuelle Natur haben,

*) Der Grundsaß „In auctore auctoritas", der aus Chomas von Aquino so oft in der Reformation und bei Luther wieder aufleuchtet, ist in der Gegenwart von f. W. P. Guizot (Méditations sur l'Essence de la Religion chrétienne, 1866) zum Ausgangspunkt der Apologie des Chriftentums genominen worden. Daß im Text nicht jede bestehende Autorität auch ohne weiteres als berechtigt anerkannt werden soll, liegt auf der Hand.

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ein Bild zu gestalten, das zugleich den begründeten Anspruch erhebt, einen Beitrag zu der Darstellung der Zeitbewegung im allgemeinen zu liefern ?

Im Anfange meiner Studentenzeit hörte ich zum ersten Male die Zither spielen und hatte meine große Freude daran, die noch andauert. Aber eine Zither ist und bleibt ein kleines Instrument. 3ft nun das wunderbar gebaute Instrument, das wir Seele nennen, nicht durchweg den Musikinstrumenten gleich, die nur über wenige, auch nur über schwache Stimmen und über eine geringe Zahl von Oktaven verfügen? Es würde Corheit sein, große Kompositionen mit solchen kleinen Instrumenten auffaffen und wiedergeben zu wollen. Eine Zither vermag eben nicht ein Oratorium zu reproduzieren. Mag fie auf dem ihr zuständigen Gebiete noch so Liebliches und Schönes leisten, so muß sie an dieser zu schweren Aufgabe scheitern. Wird dem entsprechend eine Menschenseele von Eindrücken berührt,*) die in ihrem Wesen und ihrer Stärke zu den Stimmen, den Tönen, die der Seele eigentümlich sind, nicht passen oder gar jenseits ihrer Skala und ihres Empfindungsvermögens liegen, so reagiert sie darauf entweder überhaupt nicht oder gibt wenigstens keinen Widerhall, den man irgendwie als musikalisch bezeichnen könnte. Sie schweigt oder sie schreit. Diesen dumpfen Mangel an jeglichem Bewegtwerden und an dem Ausstrahlen eines Bewegtwerdens, dann auch die krampfhaften und doch erfolglosen Bemühungen, etwas wiederzugeben, was man nicht recht hatte aufnehmen können, überhaupt die Stummheit ruhiger Saiten und, was zerrissene Saiten verlauten lassen, wird jeder früher oder später an sich selber zur

*) Meine Individualität war ohnehin immer sehr empfänglich dafür, daß alles Jrdische, Kreatürliche wesentlich auch ein Gleichnis" ist. Vergl. Milton, Parad. lost, book V, v. 576 ff.:

What surmounts the reach

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Of human sense, I shall delineate so,

By likening spiritual to corporeal forms,

As may express them best; though what if earth

Be but the shadow of heav'n, and things therein Each to other like, more than on earth is thought? Vergl. Rich. Chevenir Trensch, Notes on the Parables etc., London 1892, P. 11-30.

Genüge wahrnehmen können. Unter allen Umständen ergibt sich aber aus derartigen Tatsachen und Beobachtungen die unabweisbare, ernste Verpflichtung, solche Lebensschilderungen, wie ich fie schreiben wollte und schrieb, eben nur als ein Miniaturbild, nicht aber als ein umfassendes Gemälde der Zeitbewegungen im allgemeinen hinzustellen.

Allerdings trifft jener Vergleich der Menschenseele mit einem Musikinstrumente andererseits doch auch wieder nicht zu. Denn sie ist in eigentümlicher Weise befähigt, durch wahre, perfönliche Aneignung der Dinge, für die sie zuständig ist, ihre Aufnahmefähigkeit selbst zu erweitern und zu vertiefen, so daß sie nun auch Dinge, für die sie bis dahin nicht zuständig war, in bestimmtem Maße aufnehmen und wiedergeben kann. In der Geschichte der Menschenseele kommt eben in Wirklichkeit vor, was in der Geschichte der Musikinstrumente nur im übertragenen Sinne stattfindet: Eine Hirtenflöte wird zu einer Orgel und eine Zither zu einem Orchester!

Wie weit indessen diese Entwickelung durch Vertieft- und Bereichertwerden in Wirklichkeit vorliegt, kann theoretisch niemals und am wenigsten von dem Selbstbiographen bestimmt werden.

Man wird grundsäßlich sich innerhalb der Grenzen der eigenen persönlichen Erfahrung halten. Jedenfalls ist dies mein ernstes Bemühen gewesen. Vorbildlich war mir in manchen Beziehungen die Kleinkunst jener alten niederländischen Maler, die etwa nur sehr geringe Vorgänge im Menschenleben oder auch nur einige Schafe, Kühe usw. darzustellen liebte.*) Sie sette in dieser Liebe eben ihr Ulles daran, diese an sich geringen Objekte in ihrem Wesen und ihrer Erscheinung vollkommen zu erfassen und malerisch darzustellen. Und was ist es, das diese

*) N'est-il pas vrai, que tout le charme de la peinture hollandaise disparaîtrait, si vous pouviez soupçonner un seul instant, à l'ironie d'un seul coup de pinceau, que ces vieilles femmes sur le pas de leur porte, que ces moutons dans la prairie, que ces pots de fleurs au rebord d'une fenêtre n'ont pas été peints avec amour, comme choses connues et aimées parce qu'elles sont connues, parce qu'elles sont en quelque sorte tissues dans la trame de l'existence journalière et du bonheur quotidien? Brunetière, Le roman naturaliste, Paris 1896, p. 217 ff.

Kleinkunst so groß macht? Jeder kleinste Zug, jedes Haar in diesen Tierbildern legt sein Zeugnis davon ab, mit welcher Hingebung und Liebe der Künstler malte! Sein starker Realismus vermittelt die Offenbarung seines wahren künstlerischen Idealismus. Er ist völlig vertraut mit dem, was er malt. Er lebt mit seinem Gegenstande in inniger Gemeinschaft verbunden. Er lebt sich in ihn hinein und liebt ihn eben; und diese Liebe führt seinen Pinsel und malt jeden Strich. Wer nun ein Auge und ein Herz dafür hat, fühlt aus dem Bilde, sei es noch so klein und sein Objekt noch so gering, diese Liebe heraus, die in einer Sphäre lebt, erhabener als selbst die Kunst, und dabei doch vollkommen imstande ist, sehr deutlich und ansprechend zu zeigen, daß z. B. an einem Schafe, an dem Schafe eines solchen Künstlers mehr ist, als die Wolle. Damit eröffnet diese Kleinkunst zugleich Perspektiven, die so weit hinaus, so tief hinab, so hoch hinauf zeigen, daß man sich stets von neuem darüber wundern muß und sich herzlich daran erfreut.

Diese Vergleiche möchten in aller gebotenen Kürze veranschaulichen, welcher Beschränkungen und zugleich welcher Bestrebungen, welcher Unmöglichkeiten und doch auch wieder welcher Hoffnungen ich mir beim Aufzeichnen der nachstehenden Erinnerungen bewußt war. Ebenso möchten sie die Ursachen andeuten, warum ich so ausführlich schrieb und Anmerkungen anfügte, die nicht bloße Nachweise und Belege bringen, sondern die Aussichten und Einsichten, die der Text zu vermitteln bemüht war, noch weiter auszugestalten und eindringlicher zu betonen suchen.*)

*) Der Zweck der Anmerkungen wird dem Leser in jedem einzelnen Falle hoffentlich klar aus dem Zusammenhange entgegentreten. Wenn ich auch manche Zitate aus englischen und französischen Autoren bringe, so möchte ich dadurch zugleich etwas zur Beseitigung der dicken Scheuklappen beitragen, die manchen Studenten und gebildeten Landsmann hindern, die Literatur unserer Nachbarn besser kennen zu lernen und gerechter zu würdigen. — Allgemeiner bekannte Zitate fuchte ich zu vermeiden. — Sämtliche derartige Noten sind selbstverständlich meinen Tagebüchern entnommen und haben in einer näheren oder ferneren Beziehung zu meiner geistigen Entwickelung gestanden, obwohl es mir oft unmöglich war, diese Beziehung genauer nachzuweisen oder einen bestimmten Zeitpunkt dafür anzugeben.

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