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Diel Widerstand und Kampf gab es in dem allen. Doch damit darf ich nun den freundlichen Leser nicht weiter beschweren. Zuletzt schlug bei mir immer wieder ein alter Spruch durch, der auch dem Leser dies Buch, wie ich hoffe, am besten öffnen wird: Humani*) generis mores tibi nosse volenti Sufficit una domus!

„Der Menschheit Sitten forschst du aus, wenn du erforschst ein einzig Haus!"

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*) Juvenal. XIII, 159. Allerdings wird dieser Spruch vom Dichter dort in Verbindung mit anderen Beweggründen und zu anderen Zwecken gebildet!

SZS

Zweites Kapitel.

Der Mulus.

Nach dem Abiturienten-Examen sah die Welt mich mit ganz anderen Augen an. Ich selber hatte, wie mir vorkam, plöklich auch ganz andere Augen bekommen, um die Welt anzuschauen. Das Wort „Weltanschauung" war ohnehin in unserm Freundeskreise, besonders in unserm literarischen Verein „Iduna“, nicht selten aufgetaucht und hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Es kam mir großartig vor. Doch konnte ich nicht recht damit fertig werden. Eine leise Stimme in mir protestierte unablässig dagegen. Hatte ich denn wirklich eine Weltanschauung ? Konnte ich erwarten, mir jemals etwas anzueignen, das den Namen Weltanschauung mit Recht trage? Ich sah doch in Wirklichkeit immer nur meine Welt, meine eigene kleine Welt, die ein so unendlich geringer Teil der Welt war. Selbst meine eigene Welt sah ich nur undeutlich und mußte in jugendlichem Sturm und Drang oft meine Zuflucht zu Gottes Wort oder auch zum Worte eines Dichters*) nehmen, um einigermaßen ins Reine zu kommen.

*) Shelleys Verse ergriffen mich sehr, obwohl ihr Schluß mir unheimlich war und blieb:

O man, hold thee on in courage of soul
Through the stormy days of thy worldly way;
And the billows of clouds, that round thee roll,
Shall sleep in the light of a wondrous day,
When heaven and earth shall leave thee free
To the universe of destiny.

Meine Verdener Welt war nun jedenfalls im Untergehen. Die Domglocken läuteten dazu. Ich hatte sie in ihrer hohen Behausung in Liebe besucht. Jezt hallten sie feierlich über die Stadt her, als ich, von lieben Freunden begleitet, zum Bahnhof ging. Ihre mächtigen Töne geleiteten wohl einen Wand'rer auf dem letten Wege". Aber auch ich fühlte ihr Geleit. In einem be= schränkten, doch sehr bedeutungsvollen Sinne war mein Weg ja ebenfalls ein letter.

Jch fuhr nun in die „Mulus-Zeit“ hinein, die ich so heiß ersehnt hatte. Diesen Namen konnte ich allerdings nicht gerade schön finden. Aber im ganzen wird die „Mulus-Zeit“, die Periode zwischen dem Abgange vom Gymnasium und dem Beziehen der Universität, für einen Lebensabschnitt gehalten, in dem das Glück sein Füllhorn in einer Weise über den zukünftigen Studenten ausgießt, wie sonst selten oder nie wieder vorkommt. Meine eigene Mulus Zeit" war recht mannigfacher Urt und reich an sehr verschiedenen Erlebnissen, aber eine sehr glückliche Zeit war es doch auch.

I.

Viel Glück hatte ich zulet in Verden im Examen gehabt; und Glückwünsche hatte es von allen Seiten für mich geregnet. Mir gefiel dies ausnehmend, und ich nahm all die Glückwünsche dankbar und mit Freuden hin. Eine Mißstimmung regte sich allerdings in mir, wenn ich daran dachte, daß der Plak, der mir zuteil geworden war, nach unser aller Urteil, eigentlich meinem Freunde Stisser gebührt hätte und ihm nur durch ein zufälliges Unglück während der mündlichen Prüfung entgangen war. Dies dämpfte meine Hochgefühle. Dazu kam ein anderer Umstand, der erst recht eine große Freude nicht aufkommen lassen wollte. Mehrere von meinen Mitschülern hatten die Abgangs= prüfung nicht bestanden. Darunter war auch der Sohn eines alten, gebrechlichen und bedürftigen Dorfschullehrers, der nur mit großen Opfern seinen Sohn auf der Domschule hatte erhalten können und nun erleben mußte, daß er durchs Examen fiel. Das traurige Gesicht des Vaters trat mir oft wieder vor die Seele und betrübte mich mitten in meinem Glück“. Erst als

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ich zu Hause angelangt war und bemerkte, wie sehr sich besonders mein lieber Onkel, Kapitän J. Fr. Volkmann, über meine gute Nummer freute, trat dies alles, auch der Abschied von den Freunden, ganz zurück, und ich war guter Dinge.

Noch oft habe ich an dies Glück im Examen zurückdenken müssen, das obendrein eine ganze Reihe von guten folgen nach fich 30g. Später ist mir wiederholt ähnliches Glück, mehrfach aber auch das Gegenteil in einer Weise widerfahren, daß mein Unglück unter meinen Bekannten fast sprichwörtlich wurde. Eine eigentümliche Stellung zu Glück und Unglück nahm nun meine liebe Mutter ein. Einerseits hielt sie uns in der Kindheit fest dazu an, auswärtigen Verwandten und nahestehenden Freunden zum Geburtstage und zu Neujahr geschriebene Glückwünsche zu schicken. Wir erhielten dazu einen schönen, mit goldenen Strichen umsäumten Bogen; und es steht mir noch lebhaft vor Augen, daß ich dann oftmals mich darauf verschrieb oder Tinte anbrachte, wohin sie nicht gehörte, und unter Tränen meine Glückwünsche zuletzt auf einem ganz gemeinen Briefbogen niederschreiben mußte. Undrerseits mochte meine Mutter von Glück und Unglück eigentlich nichts hören und konnte unwillig werden, wenn mit Nachdruck erzählt wurde, jemand habe Glück oder habe Unglück. Sie deutete auch wohl darauf hin, daß eine bestimmte Art, Glück zu suchen, am Glück zu hangen, Glück zu wünschen, ganz besonders das oft vorkommende Verzweifeln im Unglück nichts anderes als Heidentum sei. Sie berief sich dafür auf Sprüche der heiligen Schrift und las uns auch Stellen aus Bengel, Anna Schlatter und Collenbusch*) vor. Ich verstand zunächst herzlich wenig davon, aber ihre Grundsätze blieben mir haften, bis ich allmählich auch in die Erfahrung hineinwuchs, daß sie im Evangelium von Gottes Vaterliebe und väterlicher Fürsorge für alle seine Kinder wurzelten.

) S. Collenbusch, Erklär. bibl. Wahrh., 2. Bd., 1. Heft, p. 85 (Elberfeld 1811). Seine Schriften haben neuerdings wieder eine größere Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil die Menkensche Versöhnungslehre fich in ihren Wurzeln bei ihm findet oder zu finden scheint. Damals traten feine Eigentümlichkeiten in der Lehre ganz zurück. Dagegen für innerliche chriftliche Erkenntnis und fürs Leben bot er Kernhaftes.

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Collenbusch zog mich, als ich älter geworden war, besonders In einem Bändchen, das vorn auf dem weißen oder vielmehr altersgrauen Blatt den Namen M. Post trägt, las ich eine Auslegung von ihm zu Psalm 17, 4: „Ich bewahre mich im Wort deiner Lippen vor Menschenwerk auf dem Wege des Mörders." Im Text und in der Erklärung war manches, das über mein Bedürfnis und Verständnis hinausreichte; daß indes in Glück und Unglück Gott mich bewahre und ich mich zu bes wahren habe in dem Worte seiner Lippen, leuchtete mir sehr ein. Überhaupt gewann ich aus Collenbusch wohl den Eindruck, daß der schmale Weg freilich anfangs kaum genügend Plaß zu bieten scheint, um den Fuß darauf zu sehen, daß er aber für den, der wirklich darauf wandelt, bald genügend Raum und genügende Sicherheit auch zum Laufen und Springen gewährt, mehr als der breite!

Das Elternhaus und das Leben auf dem Lande wuchs mir von neuem eng ans Herz. Seit sechs Jahren war ich nicht mehr folange von der Schule frei und zu Hause gewesen. Und diese Heimkehr war ja überhaupt eine andere, als die in früheren Zeiten, wenn ich die Schulferien daheim verlebte. Damals fühlte ich mich eben doch nur zeitweilig vom Schulzwange frei; und allerlei Hintergedanken von bevorstehenden neuen Schulaufgaben wollten kein rechtes freiheitsgefühl aufkommen lassen. Jetzt endlich war ich ledig aller Pflicht“ und gab mich dieser Wonne auch ganz hin. Ohnehin pflegte ich auf der Schule unter dem Eindrucke zu leiden, daß ich dort eigentlich wenig oder nichts wirklich erlebte und daß mir dagegen Stelzen angeschnallt wurden, auf denen ich dann immer weiter durch das Leben hinstapfen folle, den Kopf wenigstens um einige Fuß über die Menge emporgehoben. Nicht, daß ich damit meinen Lehrern einen Vorwurf machen wollte! Aber wenn wir nach der Schulordnung unablässig in den Gedanken- und Gefühlskreisen andrer Menschen und in der Uneignung sachlichen Wissens leben mußten, ohne daß der lebendige familienverkehr zu Hause und sonst der Umgang mit Menschen ein Gegengewicht in die Wagschale unsres Gemütes legte, so konnten wohl Befürchtungen entstehen, man werde zuguterletzt noch alle Beziehung zum wirklichen Leben außerhalb

Hashagen, Aus der Studentenzeit eines alten Pastors.

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