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sität wie den gesellschaftlich-staatlichen Einrichtungen bringt er zu wenig Verständnis entgegen, als dass er ihnen gerecht werden könnte.

Die originellste sociale Erscheinung des Mittelalters: das Lehnswesen versteht er nicht zu würdigen und ergeht sich in Spötteleien darüber. Das ganze Reich wurde in die Tafel, den Stall und die Küche des Königs verwandelt').

Das Ordenswesen wie die eigenartige religiöse Erhebung der romanisch-germanischen Völker in den Kreuzzügen, widern Herder in seinem Innersten doch zu sehr an, als dass er sie in die Entwicklung der europäischen Geistesgeschichte objektiv einreihen, Licht und Schatten gerecht verteilen könnte.

So sehr Herder das Mitfühlen der deutschen Seele erweitert und vertieft und die ihm folgende Romantik vorbereitet hat, er bleibt in seiner Beziehung zum Mittelalter doch noch ein Sohn des achtzehnten Jahrhunderts. Denn aus dem ästhetischen Gefühl des Pantheisten heraus, das ihn in der ,,schauerlichen Dämmerung" der mittelalterlichen Dome beschleicht und mehr der ästhetischen Reizbarkeit als der religiösen Inbrunst zuzuschreiben ist, konnte kein wirklich inneres Verhältnis zu dieser eigenartigen Epoche gewonnen werden. In letzter Instanz flüchtete sich Herder doch zu einem aufklärerischen Grundsatz der Beurteilung, wenn er über die Kreuzzüge sagt: ,,Denn überhaupt kann eine Begebenheit nur so viel wirkliches und bleibendes Gute hervorbringen, als Vernunft in ihr liegt").

Wir sehen hier wie der historische Sinn in seinem tiefsten Wesen in dem religiösen Erleben Herders wurzelt. Der mittelalterliche Mensch, dem die Gottheit in seinem inneren Universum aufgegangen, der sich in sie versenkte, um das äussere Universum zu vergessen und dadurch zur Ruhe kam, dieser Mensch konnte von Herder, dem die Gottheit sich mehr in der Ordnung und Harmonie des äusseren Universums und in der Gesetzmässigkeit der Geschichte offenbarte als in der intimsten Sphäre des eignen Ich, nicht ganz verstanden werden. Wir werden hier, wie so oft auf jene beiden Pole des europäischen Geisteslebens geführt, welche Dilthey so scharfsinnig erfasst hat: auf das Bewusstsein der Verwandtschaft des

1) Vergl. A. W. S. Bnd. V, S. 393.

2) Ebenda S. 476.

Menschen mit dem Naturgrunde einerseits und den Idealismus. der Personalität und der Freiheit andrerseits1).

In Anbetracht dessen ist uns Herders Urteil über die Kreuzzüge psychologisch verständlich, wenn sie in seinen Augen fast nichts weiter sind als eine „Raserei" des christlichen Europa), oder als eine ,,heilige Narrheit, auf der schwerlich das System Europas beruhen könne".

Wie Herder gegen Ende des vierten Teils der Ideen den Handelsgeist und den Rittergeist Europas schildert, wie er ferner die anhebende Kultur der Vernunft, die Entdeckungen u. s. w. als Vorboten einer neuen Zeit beschreibt, können wir übergehen. Sie bedeuten gegen die entwicklungsgeschichtlichen Darstellungen Roms und Griechenlands einen Rückschritt. Das Leben Europas wurde immer reicher und komplicirter und Herder war mit seinen wissenschaftlichen Voraussetzungen nicht fähig, es zu meistern. Mit Freuden sieht er der neuen Organisation der europäischen Völker entgegen, und weist auf die Umstände hin, unter welchen der moderne Mensch sich aus dem mittelalterlichen zu entwickeln beginnt. Die erste Volksreligion kommt unter verfolgten, zum Teil schwärmenden Ketzern, die Philosophie auf Hörsälen streitender Dialektiker, die nützlichsten Wissenschaften als Zauberei und Aberglaube, die Lenkung menschlicher Empfindungen als Mystik, die bessere Staatsverfassung als ein abgetragener, geflickter Mantel einer längst verlebten, ganz ungleichartigen Gesetzgebung zum Vorschein; hierdurch soll Europa sich aus dem verworrensten Zustande hervorheben und neu bilden).

Doch zur Entwicklung der Geschichte dieses neuen Geistes der europäischen Republik" ist Herder nicht mehr gekommen. Nur ein kurzer Entwurf des Planes ist uns erhalten.

Der neuen Epoche aber mit ihren stark wirtschaftlichen Interessen, ihren verwickelten politischen Fragen, welche nach dem Auskämpfen der religiösen in dem Leben der europäischen Staaten die Oberhand gewannen, waren Herders ästhetisirende und unpolitische Massstäbe nicht gewachsen.,,Der Mann

1) Vergl. den bereits citirten Aufsatz über den entwicklungsgeschichtlichen Pantheismus.

2) Vergl. A. W. S. Bnd. V, S. 470.

3) Ebenda S. 485.

hörte auf, sagt Kühnemann'), als er sich der lebendigen Gegenwart näherte, denn in Wahrheit, diese enthielt in sich einen grossen einheitlichen Komplex von Entwicklungen, welchen seine Gedanken nicht umspannten, und schon begann die eherne Gewalt der Tatsachen in der Geschichte sich zu einer blutigen Kritik der Humanitätsphilosophie zu rüsten. Für Herder war die Vergangenheit, die er schilderte, die Gegenwart seines Geistes; der wirklichen Gegenwart aber, in der er lebte, war sein Geist in vielen Gebieten fern, sehr fern!"

1) Vergl. Einl. zu den Ideen S. 138.

C.

Schluss.

Herders entwicklungsgeschichtlicher Gedanke in seiner Bedeutung für die Geschichtswissenschaft.

Wir sind am Ende unsrer Untersuchung. Herders Stellung in der Geschichte des Entwicklungsgedankens ist eine bedeutende. Wenn das Wesen des Entwicklungsgedankens darin besteht, dass die bewegenden Kräfte der historischen Entwicklung nicht transcendenten Zweckbegriffen, sondern den tatsächlichen Faktoren der Geschichte selber entnommen werden, so unterliegt es keinem Zweifel, dass Herders Ideen im wesentlichen in diesem Sinne geschrieben sind. Zwar ist sein Entwicklungsgedanke noch vielfach theologisch und metaphysisch gebunden, denn Herder gibt noch nicht ganz den Gedanken auf, dass das Ziel der Geschichte ein jenseitiges, dass also diese um eines Zweckes willen da sei, der selbst jenseits aller Geschichte liege. Indem er aber von der Natur aus das Gebiet der Geschichte zu erobern sucht und nach Naturgesetzen in der Entwicklung der Menschheit forscht, dann aber in der Humanität den Zweck der Geschichte erblickt, kommt er doch einer rein empirischen Betrachtung der Geschichte nahe. Denn unter Humanität versteht er nichts anders als die Summe der tatsächlich in dem Menschen wirkenden geistigen Anlagen, so dass der transcendente Zweck ein der Menschheitsgeschichte zu jeder Zeit immanenter ist. Das ans Ende der Geschichte verlegte Ideal wird so zu einem wenigstens in relativen Annäherungen bereits erreichten.

Es bleibt auch Herders unvergängliches Verdienst, dass er auf die Notwendigkeit einer allseitigen Erforschung der

sämtlichen physischen und psychischen Faktoren der Geschichte die Historiker hingewiesen und der Geschichte den Weg gezeigt hat zu einer sämtliche Betätigungssphären des menschlichen Geistes umfassenden Darstellung der Entwicklung.

Er hat allerdings den Gedanken, dass die Geschichte eine in sich zusammenhängende Entwicklung sei, schon vorgefunden, aber er hat ihn bedeutend erweitert und vertieft. Er hinterliess ein weit abgestecktes Feld für neue geschichtswissenschaftliche Eroberungen, die andere unter günstigeren Bedingungen durchzuführen hatten. Seine Nachfolger sollten an der Hand zergliedernder Untersuchung das fortsetzen, was Herder auf dem Wege der Intuition gefunden hatte.

In der Tat hat er auf die nächsten Generationen einen fördernden Einfluss ausgeübt. Er hat der Anthropogeographie des neunzehnten Jahrhunderts in vielfacher Beziehung den Weg gewiesen, und als Hermann Lotze in unserer Zeit im Mikrokosmus seine Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit niederlegte, nahm er die umfassende Richtung Herderscher Geschichtsbetrachtung auf, freilich vertieft und erweitert durch die ganze Geistesarbeit seines Jahrhunderts. Auch die neuesten Richtungen der Kulturgeschichte knüpfen vielfach an Herder an, und die Publikationen anlässlich seines hundertsten Todesjahres beweisen, dass er unserer Gegenwart noch vieles zu sagen hat.

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