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unter der Herrschaft einer bestimmten und ausgeprägten Bildungsweise. Die Philosophie hat die Aufgabe diese Bildungsform zu durchschauen, sie aus ihrem innersten Motiv heraus zu begreifen und klar zu machen, was sie ist und erstrebt").

Bei der Untersuchung des Charakters des geschichtlichen Prozesses hat die wissenschaftliche Forschung alle möglichen Faktoren der Geschichte auf drei Grundelemente zurückgeführt: das natürliche Milieu, das geschichtlich-soziale Milieu und das Individuum. Als den drei Hauptmomenten des geschichtlichen Werdens entsprechen ihnen auch drei Hauptrichtungen in der Geschichtsphilosophie: die physisch-klimatische, die kulturhistorische oder soziale und die individualistischeR).

Die physisch-klimatische Richtung geht in ihrer Erklärung der Geschichte von der äusseren Natur aus; die kulturhistorische sucht durch die verschiedenen Kultur- und Lebensformen, die sich im geschichtlichen Prozesse herausgebildet haben, die geschichtliche Bewegung zu erklären; die individualistische Richtung endlich befasst sich besonders mit den grossen Einzelmenschen als den Bewegern der Geschichte.

Ist doch das Individuum, so sagen die Vertreter der letzteren Richtung, der eigentlichste Repräsentant des Neuen und Variablen in der Geschichte. Erst durch die Entgegensetzung des originalen Einzelmenschen dem gesellschaftlichen Milieu, durch eine Kritik des letzteren, entsteht eine Spannung zwischen beiden, eine Ueberwindung des Milieus durch das Individuum, die es im Namen seiner specifischen Entwicklungsbestrebungen vollzieht, entsteht ferner das Ergebnis der Arbeit des freien Gedankenlebens als des Vorbereiters neuer historischer Gemütsverfassungen, kurz das ganze geschichtliche Leben selbst. Nur diejenigen sind als die eigentlichen Träger des geschichtlichen Lebens zu betrachten, die sich der überlieferten Kulturform nicht blindlings anpassen, sondern sie denkend, kritisierend und schöpferisch fortsetzend in Verfolgung eines Ideals entwickeln.

Aus der Kritik der drei hier in kürze bezeichneten Richtungen in der Geschichtsphilosophie ergibt sich als letztes

1) Vergl. K. Fischer: Einl. in die Gesch. der neuern Philos., Heidelberg 1902, S. 10.

2) Vergl. Berner Studien zur Philos., Bd. III, 1896, S. 8, f. (Zur Charakteristik der Methoden d. Geschichtsphilos. etc. v. Rappoport.)

Ziel der Deutungsversuche der Geschichte: die. Versöhnung aller drei Gesichtspunkte. Denn nicht von einseitigen Prinzipien aus kann man zur sachgemässen Bestimmung des Anteils gelangen, den je die verschiedenen Kulturelemente an den Ereignissen haben, und die man daher bei der Interpretation, Kombination und Reproduktion der betreffenden Ereignisse in Anschlag zu bringen hat, sondern nur auf dem!selben empirischen Wege vorurteilsfreier Untersuchung im einzelnen. Auf Grund solcher Untersuchungen kann auch die Geschichtsphilosophie nur zu einem allgemeinen Urteil über den Anteil der verschiedenen Kulturelemente an der Gesamtentwicklung gelangen.

Diese einleitenden Gedanken war es nötig vorauszuschicken, um uns klar zu werden über die Gesichtspunkte, unter welchen wir den entwicklungsgeschichtlichen Gedanken Herders betrachten werden.

- L

B.

Der entwicklungsgeschichtliche Gedanke bei Herder.

1. Der entwicklungsgeschichtliche Gedanke vor Herder.

1. Das Altertum.

Der Entwicklungsgedanke, dem in letzter Linie das Postulat der Continuität des Geschehens zugrunde liegt, ist sehr alt, wenn es auch zu einer Entwicklungstheorie erst spät kommt.

Den alten Griechen mangelt die erste Bedingung einer entwicklungsgeschichtlichen Erfassung des menschlichen Lebens: der Begriff der Menschheit, der freudige Blick in die Zukunft. Ihr Horizont war in der grossen Zeit der freien Stadtstaaten noch räumlich und zeitlich eingeschränkt. Es entsteht ihnen keine wissenschaftlich begründete Anschauung von der geschichtlichen Entwicklung der Kultur und der Stellung, welche sie selber darin einnehmen. Die griechische Philosophie blickt fragend in die Zukunft und erwartet von ihr höheres Licht. Es ist notwendig abzuwarten, sagt Plato (Alkibiades II), bis man gelernt hat, wie man sich gegen Götter und Menschen zu verhalten habe." Der weise Silen, der Begleiter des Dionysos, erzählt die Sage, von König Midas gefragt, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei, antwortet:,,Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das zweitbeste aber ist für dich bald zu sterben“). Trotzdem finden wir bei den Griechen wenigstens Ansätze zu einem entwicklungsmässigen Erfassen des geschichtlichen

1) Vergl. Nietzsche: Geburt der Tragoedie § 3.

Lebens. Vor allem ist Aristoteles' Versuch einer Verfassungsgeschichte Athens beachtenswert. Er erzählt darin nicht den fortlaufenden Fluss der Dinge, sondern nur die Wendepunkte, die Umwälzungen der Verfassung greift er heraus und veranschaulicht an ihnen den Gang der Entwicklung. Und so sehr er in seiner Zeit steht, wir dürfen doch nicht vergessen, dass es ein Fundamentalsatz alles geschichtlichen Denkens ist, den er in diesem Buche ausspricht, wenn er von Solon sagt: „Die Gerechtigkeit erfordert, seine Absichten nicht unter dem Gesichtspunkte der heutigen Zustände zu beurteilen"). Oder wenn er in seiner Politik äussert: Man kann die Natur ciner Sache nicht besser erforschen, als wenn man sie unter seinen Augen entstehen sieht. Diese Methode wollen wir also auch, in Absicht unsres Gegenstandes einschlagen"). Und auch das ist als erster Versuch beachtenswert, dass Aristoteles 158 verschiedene Verfassungen vergleicht, um seine Theorie der Abwandlung der einzelnen Staatsformen daraus zu gewinnen.

Mit dem Stoicismus, der Philosophie der Resignation und Zukunftslosigkeit endet auch der römische Genius. Noch Cicero, Caesar, Horaz und Vergil schrieben in einer Gemütsstimmung, als ob Rom ewig dauern sollte. Seneca, Plinius, Marc Aurel begnügen sich in dem Gedanken, die absteigende geistige Bewegung werde sich aufhalten lassen. In einem von den Mitteln zur Kultur übersättigten Zeitalter preist Tacitus die Tugenden des germanischen Naturvolkes, wie Herder im achtzehnten Jahrhundert den Naturmenschen gegen die Aufklärung ausspielen wird.

Was an entwicklungsgeschichtlichen Versuchen das Altertum hinterlassen hat, ist mehr ein unsicheres Tasten nach Wahrheit als ein zielbewusstes Forschen darnach.

2. Das christliche Mittelalter.

Ueber Geschichte kann niemand urteilen, als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat. Es scheint den Menschen oft schwer einzugehen, sagt Baader, dass die Erkenntnisfunktion des Lebens, selbst eine Lebensfunktion ist").

1) Vergl. Die Verfass. v. Athen v. Aristotel. übers. v. Wentzel, Lpzg. 1892, S. 12, f.

2) Vergl. Die Politik des Aristotel. übers. v. M. Brasch, Lpzg, 1893. S. 28. 3) Vergl. Fermenta cognitionis, Hleft 2 im 2. Bnde d. sämmtl. Werke (1851-1860) S. 207.

Aus dem inneren Erleben des jüdischen Volkes ist das Christentum herausgewachsen. Nicht in den Taumel eines ewigen Naturkreislaufs fühlte sich der Jude verflochten, sondern in den Fortschritt einer Geschichte. Ihm war Gott ein geschichtlicher Gott, dem die Natur ein Fussschemel seiner Macht, aber das Leben der Menschheit, seines auserwählten Volkes, das einzige Augenmerk seiner Vorsehung ist.

Christus kam, und gleich brachen in Europa die Quellen des geistigen Lebens hervor. Vergeblich hatte im Altertum Archimedes nach dem Punkte gesucht, von dem aus die ganze Welt zu bewegen wäre, jetzt war im Christentum der Punkt gefunden; freilich nicht der sinnlichen Welt war er entnommen und nicht dazu gefunden, um die Erde im kühnen Uebermut aus den Angeln zu heben, sondern um sie zu beglücken.

Die Grundidee für eine allgemeine Geschichte: die Idee der Menschheit, welche das Altertum mehr als Postulat denn als inneres Erlebnis aufgestellt hatte, war im Christentum Realität. Die Menschheit bekam eine Zukunft, sie konnte nunmehr eine entwicklungsmässige Vergangenheit gewinnen.

Die Hoffnungsfreudigkeit des Christentums flammt in dem letzten grossen Römer auf zu einer gigantischen Konstruktion der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Wie Cicero, Caesar, Horaz und Vergil verkündet Augustin die Ewigkeit der Stadt Rom, aber es ist eine andre Ewigkeit und ein andres Rom. Dem Ton seiner Confessionen und seiner Schrift über die Stadt Gottes fühlen wir zum ersten Male wieder an, dass ein lateinischer Autor mit der frohen, energischen Zuversicht sich ausspricht, mit der zu den Zeiten des ersten Kaisers zuletzt geschrieben worden war. Augustinus ist der erste römische Schriftsteller, der wieder an eine glückliche Zukunft glaubt1).

Er erlebt in den zwei Epochen seines Lebens das Rom der Caesaren und das der Christen und um diese beiden Pole lässt er auch die ganze Geschichte sich bewegen. Bis auf Herder wird diese heilige und profane Geschichte fortgeführt werden, erst er wird die beiden getrennten Ströme in einem Bette zu vereinigen suchen).

1) Vergl. H. Grimm: Raphael als Weltmacht, Deutsche Rundschau 1901. 2) Vergl. Werner: Herder als Theologe, S. 299.

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