umfassenden Blick, wie niemand vor ihm betrachtet er die Abhängigkeit des Menschen und seiner Geschichte von den Naturbedingungen. Wir können natürlich hier nur die wichtigsten Punkte seiner Anschauungen über das natürliche Milieu berühren. Die Hilfsdisciplinen, welche er für das Verständnis der Geschichte angebaut wissen will, sind sehr zahlreich. Um ihren Wert für die Entwicklungsgeschichte zu bemessen, würde es eine besondere Arbeit mit besonderen Vorkenntnissen erfordern. Nur das steht fest, dass er auch hier wie sonst unmethodisch vorgeht und eigentlich nie denkt, sondern nur Einfälle hat. In dem Erfassen der Wirkungen des natürlichen Milieus auf den Menschen, um es hier schon zu betonen, wird er das Problem nicht immer scharf umschreiben, in der Regel durch geistreiche Aperçus eher blenden als wirklich aufklären. Seine Stärke ist, immer anzuregen, den Weg zu weisen, nicht aber zum Ziele zu führen. Um den Einfluss der Natur auf den Menschen zu bestimmen, sucht er zunächst die Erd- wie Menschengeschichte kosmographisch zu deuten. Der ganze Raum und Wirkungskreis unsres Geschlechts ist so fest bestimmt und umschrieben, als die Masse und Bahn der Erde, auf der der Mensch der Geschichte sich auslebt.,,Je in einen grösseren Chor der Harmonie, Güte und Weisheit aber diese meine Mutter gehört, je fester und herrlicher die Gesetze sind, auf der ihr und aller Welten Dasein ruhet, je mehr ich bemerke, dass in ihnen Alles aus einem folgt und Eins zu Allem dienet: desto fester finde ich auch mein Schicksal nicht an den Erdenstaub, sondern an die unsichtbaren Gesetze geknüpft, die den Erdstaub regieren"1). Das Verhältnis unserer Materie zu unserm Geist ist vielleicht, so mutmasst Herder, so abgewogen gegen einander als die Länge unsrer Tage und Nächte. Unsre Gedanken- · schnelligkeit ist vielleicht im Verhältnis des Umschwungs unsres Planeten um sich selbst und um die Sonne zu der Schnelligkeit oder Langsamkeit andrer Sterne; so wie unsre Sinne offenbar im Verhältnis der Feinheit von Organisation stehen, die auf unsrer Erde fortkommen konnte und sollte. Auch unser Verstand ist nach Herder,,aus Sinnlichkeiten, die uns hier umgeben, allmählich gebildet", ebenso wie die Triebe und Neigungen unsres Herzens. Unser ganzes Sinnen und 1) Vergl. A. W. S. Bnd. IV, S. 15. Trachten, unsre Entschlüsse und Hoffnungen, alles resultirt ihm aus den Gesetzen des Kosmos. Länge und Kürze des menschlichen Lebens, mithin das Mass unsrer Kräfte, die Revolutionen des menschlichen Alters, die Abwechselungen unsrer Geschäfte, Phänomene und Gedanken, die Nichtigkeit oder Dauer unsrer Entschlüsse. Alles dies ist zuletzt an das einfache Gesetz der Tages- und Jahreszeiten gebunden'). So wird bei Herder, wie wir schen, der Mensch ins Weltganze restlos aufgelöst. Die Menschheit wird ein Stück Erde, deren ganze vorherige Geschichte als eine Vorbereitung des Auftretens dieser höchsten tellurischen Entwicklungen angesehen werden kann. Herder hört förmlich Gras wachsen, so realistisch und lebhaft schildert er uns die Einflüsse, welche die Erde von allen Seiten des Weltenraumes empfängt.,,Die Sonne, der ewige Feuerball, regt sie mit seinen Strahlen: der Mond, dieser drückende schwere Körper, der vielleicht gar in ihrer Athmosphäre hängt, drückt sie jetzt mit seinem kalten und finstern, jetzt mit seinem von der Sonne erwärmten Antlitz. Bald ist er vor, bald hinter ihr; jetzt ist sie der Sonne näher, jetzt ferner. Andre Himmelskörper nahen sich ihr, drängen auf ihre Bahn und modificiren ihre Kräfte"). Würde man diese Einflüsse wissenschaftlich erforschen, dann würde, meint Herder, die Astrologie aufs neue in der ruhmwürdigsten, nützlichsten Gestalt unter unsern Wissenschaften erscheinen. Nicht weniger Aufmerksamkeit schenkt Herder der Entstehung der Erdrinde, die er als ein über das Wasser emporragendes Gebirge erkennt. Die Betrachtung über das Festland schliesst er mit folgender schöner Bemerkung:,,Nicht auf dem Boden deiner Erde wandelst du, armer Mensch, sondern auf einem Dach deines Hauses, das durch viel Ueberschwemmungen erst zu dem werden konnte, was es dir jetzt ist. Da wächst für dich einiges Gras, einige Bäume, deren Mutter dir gleichsam der Zufall heranschwemmte, und von denen du als eine Ephemere lebest"). Im Anschluss hieran. deutet er die mosaische Urkunde. Der Bergrücken Asiens, wo fast alle Tiere der Erde wild anzutreffen sind, von wo aus die ganze Erde bevölkert worden, ist die Archie Noahs, die Flüsse Asiens, an welchen die erste menschliche Kultur 1) Vergl. A. W. S. Bnd. IV, S. 20, ff. 2) Ebenda S. 31. 3) Ebenda S. 51. entstand, wo der Mensch die in ihm schlummernden Triebe zu entwickeln begann, sind die Flüsse des Paradieses. Die Natur hat den Gang der Menschheitsgeschichte vorgezeichnet. Mit den Bergreihen, die sie zog, wie mit den Strömen, die sie herunterrinnen liess, hat sie gleichsam den rohen, aber festen Grundriss aller Revolutionen der Geschichte entworfen. Die natürliche Operationsbasis ist in Europa am günstigsten für den Menschen. Denn, so fragt Herder, warum zeichnet es sich durch seine Verschiedenheit von Sitten und Künsten, am meisten aber durch die Wirksamkeit aus, die es auf alle Teile der Welt gehabt hat? Ich weiss wohl, dass es einen Zusammenschluss von Ursachen gibt, den wir hier nicht auseinander leiten können; physisch aber ist's unleugbar, dass sein durchschnittenes viel gestaltiges Land mit dazu eine veranlassende und fördernde Ursache gewesen. Als auf verschiedenen Wegen und zu verschiedenen Zeiten sich die Völker Asiens hierher zogen: welche Buchten und Busen, wie viele und verschieden laufende Ströme, welche Abwechselung kleiner Bergreihen fanden sie hier! Sie konnten zusammen sein und sich trennen, auf einander wirken und wieder in Friede leben; der vielgegliederte kleine Weltteil ward also der Markt und das Gedränge aller Erdvölker im kleinen. Das einzige Mittelländische Meer, wie sehr ist es die Bestimmerin des ganzen Europa worden! So dass man beinah sagen kann, dass dies Meer allein den Ueber- und Fortgang aller alten und mittlern Kultur gemacht habe. Die Ostsee stehet ihm weit nach, weil sie nördlicher, zwischen härtern Nationen und unfruchtbarn Ländern, gleichsam auf einer Nebenstrasse des Weltmarkts liegt; indessen ist auch sie dem ganzen Nord-Europa das Auge. Ohne sie wären die meisten ihr angrenzenden Länder barbarisch, kalt und unbewohnbar. Ein gleiches ist's mit dem Einschnitt zwischen Spanien und Frankreich, mit dem Kanal zwischen diesem und England, mit der Gestalt Englands, Italiens, des alten Griechenlands. Man ändre die Grenzen dieser Länder, nehme hier eine Meerenge weg, schliesse dort eine Strasse zu, und die Bildung und Verwüstung der Welt, das Schicksal ganzer Völker und Weltteile geht Jahrhunderte durch auf einem andern Wege"). Dem heutigen Geschichtsschreiber freilich klingen diese Herderschen Schilderungen zu selbstverständlich, und Goethe 1) Vergl. A. W. S. Bnd. IV, S. 40, f. hatte Recht, als er sagte:,,Herders Ideen sind so sehr in die Kenntnis der Massen übergegangen, dass wenige, die sie. lesen, daraus noch belehrt werden". Für das achtzehnte Jahrhundert war jedoch Herders geographische Erklärung der Geschichte mit ihren grossen Perspektiven ein bedeutender Fortschritt. Da der Autor eine Abneigung gegen ein analytisches Vorgehen hat und sich nur auf seinen Instinkt verlässt, so kommt es bei ihm allerdings nur zum allgemeinen Erfassen der Probleme der Anthropogeographie. Sie mussten aber erst so in Bausch und Bogen genommen werden, bevor man im neunzehnten Jahrhundert an der Hand einer zergliedernden Untersuchung ihnen beikommen konnte. Auch in der Schilderung der klimatischen Einflüsse auf den Menschen kommt Herders unmethodisches Vorgehen zur Erscheinung. Das Leitmotiv ist hier namentlich sein dichterisch-ästhetisches Empfinden. Ihn täuscht oft der Umstand, dass eben das Gesamtbild eines Landes und seiner Bewohner sich unsrer Wahrnehmung immer zugleich darbietet und dadurch den Schein innerer ästhetischer Zusammengehörigkeit annimmt, den zuletzt jede uns beharrlich vor Augen gestellte Tatsache erwirbt. Freilich erkennt er, wie wir gleich sehen werden, im Klima die Sammlung äusserst mannigfaltiger Einzelheiten, erleichtert sich aber die Untersuchung dadurch, dass er besonders die Wirkung des Klimas auf den Naturmenschen betrachtet und nur vage Andeutungen macht, wie sich der Kulturmensch auch aktiv zu der Natur stellt und die Ungunst des Klimas überwindet. Doch hören wir Herder selbst. ,,Was heisst zunächst Klima? Nicht Hitze und Kälte ist's allein, sagt Herder, was aus der Luft auf uns wirket'); vielmehr ist sie nach den neuern Bemerkungen ein grosses Vorratshaus andrer Kräfte, die schädlich und günstig sich mit uns verbinden. In ihr wirkt der elektrische Feuerstrom, dies mächtige und in seinen animalischen Einflüssen uns noch fasst unbekannte Wesen". Zum Klima rechnet Herder ferner die Höhe oder Tiefe eines Erdstrichs, die Beschaffenheit desselben und seiner Produkte, die Speisen und Getränke, die der Mensch geniesset, die Lebensweise, der er folgt, die Arbeit, die er verrichtet, Kleidung, gewohnte Stellungen sogar, Vergnügen und Künste, nebst einem Heer andrer Umstände, die in ihrer lebendigen Verbindung viel wirken, alle sie gehören zum Gemälde des viel 1) Vergl. A. W. S. Bnd. IV, S. 263, ff. verändernden Klimas. Es ist ein Inbegriff von Kräften und Einflüssen, zu dem auch die Pflanze wie das Tier beiträgt und der allen Lebendigen in einem wechselseitigen Zusammenhange dienet. Das Klima ist ein Chaos von Ursachen, die einander sehr ungleich, also auch langsam und verschiedenartig wirken. Noch komplizirter gestaltet sich der Klimabegriff, weil wir noch seine Localbeschaffenheiten in Betracht ziehen müssen, denn mit jedem Orte wechselt das Klima. Herder hebt auch hervor, wie wenig wir schon die Luft allein kennen, die Beschaffenheit und Wirkung unsrer Winde. ,Wie viel mangelnde Vorarbeiten werden wir inne, ehe wir an eine physiologisch-pathologische, geschweige an eine Klimatologie aller menschlichen Denk- und Empfindungskräfte kommen können!") Eine Theorie der klimatischen Gesetze zu geben, daran hindert Herder zunächst sein Sinn für's Konkrete, ,,denn, so sagt er, je scharfsinniger und systematischer der Kopf ist, der diese Folgerungen durchdenkt und reihet, desto gewagter sind sie, weil immer zu viel und zum Teil gegenseitige Kräfte neben einander wirken"). Freilich sind wir nach Herder ein bildsamer Thon in der Hand des Klimas; aber die Finger desselben bilden so mannigfalt, auch sind die Gesetze, die ihm entgegenwirken, so vielfach, dass vielleicht nur der Genius des Menschengeschlechts das Verhältnis dieser Kräfte in eine Gleichung zu bringen vermöchte. Er will daher nur Probleme geben. Er geht nun den Wirkungen des Klimas auf den Körper nach. Seine Einflüsse erstrecken sich auf Körper allerlei Art, vorzüglich aber auf die zarteren, die Feuchtigkeiten, die Luft und den Aether. Sie verbreiten sich viel mehr auf die Massen der Dinge als auf die Individuen, doch auch auf diese durch jene"). Das Klima zwinget nicht, sondern es neiget; es giebt die unmerkliche Disposition, die man bei eingewurzelten Völkern im ganzen Gemälde der Sitten und Lebensweise zwar bemerken, aber sehr schwer, insonderheit abgetrennt, zeichnen kann. 1) Vergl. A. W. S. Bnd. IV, S. 261. 2) Ebenda S. 263. 3) Ebenda S. 267, f. |