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Ich bin zu Ende mit meiner kleinen Sammlung. Nur vier Haussprüche sind noch in meiner Mappe, die ich in Tirol aufgelesen habe. Da diese aber bereits von den Brüdern Zingerle in die deutschen Haussprüche aus Tirol (Innsbruck, Wagner, 1871) Aufnahme gefunden haben, so sehe ich von der Mitteilung dieser vier Sprüche ab und verweise den Leser auf dies niedliche und freundliche Büchlein, das ihm gewifs, sofern er für diese Gattung der Poesie empfänglich ist, viele Freude bereiten wird.

Beurteilungen und kurze Anzeigen.

Poetik von Wilhelm Scherer. Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, 1888.

Seit einigen Wochen ist das nachgelassene Werk Wilhelm Scherers veröffentlicht, welches im wesentlichen das im Sommersemester 1885 an der Berliner Universität gehaltene Kolleg über Poetik umfafst, im Anhang aber frühere Entwürfe, Auszüge, Notizen im Anschlufs an die jeweilige, mit dem geplanten Werke in Beziehung stehende Lektüre bringt, soweit sie sich für die Veröffentlichung eignen. Allen denjenigen, denen es vergönnt gewesen, den genialen Mann seine originalen Gedanken über Poesie vortragen zu hören, wird jene Vorlesung eine unvergessliche Lebenserinnerung sein. Aber auch diejenigen, die an das nunmehr vorliegende Werk herantreten, werden sich gar bald, trotz der ihm von seiner Entstehung her anhaftenden Mängel, seiner wissenschaftlichen Tragweite bewusst werden. Doch würde man fehlgehen, wollte man sich auf langatmige, vom Begriff des Schönen", "des Erhabenen" u. s. w. handelnde sogenannte philosophische Ausführungen gefafst machen. Das ist nichts Neues, vielmehr so alt, dafs viele Einsichtige und wahrhaft Kunstbegeisterte der Lektüre derartiger Werke überdrüssig geworden sind. Aber im Grunde ist Scherer mehr Philosoph als viele jener, die sich als solche ausgeben. Er hafste den Schein des Wissens, wo keines vorhanden; er wollte nie mehr sagen, als er sagen konnte und sich überhaupt sagen liefs. Das zeigt sich an seiner Litteraturgeschichte, das zeigt sich in noch höherem Mafse an der „Poetik". Sie ist die reichste Frucht seines arbeitsreichen Lebens und verspricht ein Markstein in der wissenschaftlichen Kunstbetrachtung zu werden, die froh sein wird, einen Zuwachs an Begriffen statt an nichtssagenden Phrasen zu erhalten.

Die Stellung des Problems, die Bezeichnung der Ziele der Forschung, die Methode, deren sich Scherer bedient, sie zu erreichen, alles dies zeigt ihn als einen jener Gelehrten, wie sie zu Reformatoren ihrer Wissenschaft geworden sind. Daher auch seine vielfache Beschäftigung mit Fundamentalfragen, die über die Natur wahrer, fruchtbringender Erkenntnis angestellt werden. Was ist Streben," fragt er (Anhang p. 299), „Erkennen höherer Ziele und der Entschlufs, sie durchzuführen." Und gleich darauf: „Schärfere Erkenntnis des Zweckes und der dazu führenden Mittel das ist die Quelle des Fortschritts." Wer mit solcher Anschauung an die überlieferte Bücherweisheit herantritt, wie sie gerade auf dem Gebiete der Geistes- und schönen Wissenschaften leider nur allzu reichlich vorhanden ist, dem kann das Streben Archiv f. n. Sprachen. LXXXI.

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nicht fehlen, sich von ihr zu emancipieren, zu reformieren. Es liegt," sagt er (p. 288 f.), „auf den Lehren der Rhetorik ein dicker Staub der Jahrhunderte, und ich will nur gestehen, dafs ich mich von früh auf angegähnt fühlte, wenn ich in der Schule die vermoderten Kunstausdrücke anwenden sollte." Und geradezu als Reformator kündigt er sich in einer Notiz vom 10. Mai 1885 an: „Ich glaube jetzt einiger Grundbegriffe der Poetik mächtig geworden zu sein, durch welche die ganze Lehre vereinfacht und, wie ich hoffe, aufgefrischt wird; und ich werde nicht verfehlen, einen Entwurf der Poetik so rasch als möglich zuerst in Vorlesungen und dann auch öffentlich aufzustellen.“ „Ich will" sagt er im Vorwort p. XI hier nicht traditionelle Lehren überliefern, sondern auf neuen eigenen Wegen in das Wesen der Poesie eindringen und ich lege mir in der Regel selbst erst, wenn ich meine Ansicht neu gebildet, Rechenschaft darüber ab, wie weit ich mit Vorgängern zusammengetroffen bin, wie weit die Vorgänger etwa das Bild, das ich mir gemacht, ergänzen." Also die Kritik des Vorhandenen rückt in die zweite Stelle, er will nicht sowohl eine Kritik der Bücher und Systeme", wie sie Kant abweist, um allerdings später mit Recht eine solche üben zu können, er will vielmehr ein neues System, oder doch die Grundlagen desselben aufführen, das dem zu behandelnden Gegenstande auf neuen Wegen beizukommen sucht. Und diese neuen Wege beruhen auf der Empirie, der Erfahrung. Er spricht von einer „empirischen Poetik" (p. 42), von einer empirischen Ästhetik" im Gegensatz zu der üblichen „spekulativen“, die Hettner befeindet (p. 59), von dem „bifschen Induktion", auf dem Schlegel seine Theorie basiere, von dessen durchgängiger Abhängigkeit von dem bifschen", was er wirklich in der Skulptur gesehen, u. s. f.

Es ist klar: Scherer will dasselbe Verfahren, welches vor Jahrhunderten Bacon* in der Philosophie mit so grofsem Erfolg einschlug, auf sein specielles Gebiet verpflanzen, er will innerhalb desselben der Induktion zu ihrem Rechte verhelfen, nicht derjenigen, welche, kaum einiger dürftiger Thatsachen mächtig, mit Windeseile, ohne der Mittelglieder zu achten, zu den höchsten Principien eilt, sondern derjenigen, die unermüdlich sammelt, ordnet, klassifiziert und von der aus durch das Verfahren der Vergleichung, der wechselseitigen Erhellung wirklich neue, allgemeine Thatsachen: Principien erschlossen werden. Aber er will nicht vergleichen, um zu verwerfen und vorzuziehen, sondern um Verwandtschaft und Eigentümlichkeit schärfer zu erfassen (p. 62). Demnach ergiebt sich nunmehr sein Programm von selbst: er will die dichterische Hervorbringung, die wirkliche und die mögliche, beschreiben in ihrem Hergange, in ihren Ergebnissen, in ihren Wirkungen" (p. 65).**

Nun aber verlangen die mühsam zurückgedrängten Fragen eine Antwort: was denn Poesie sei, und um was es sich eigentlich in der Poetik handle? Wir geben sie auszugsweise im genauen Anschlufs an Scherers eigene Ausführungen.

Wir wenden das Wort Poesie in zwiefacher Beziehung an, einmal zur Bezeichnung der gebundenen Rede im Gegensatz zur ungebundenen, dann aber auch, da wir den prosaischen Roman in den Bereich der Poesie verweisen, einer gewissen kunstmäfsigen" Anwendung der ungebundenen Rede, woraus sich sofort zwei weitere Fragen ergeben: a) ob alle Poesie auf der kunstmäfsigen Anwendung der Sprache beruhe; b) ob jede Anwendung der kunstmäfsig gebrauchten Sprache Poesie sei, Fragen, deren erstere sich weit leichter als die zweite erledigt. Die Erfindung eines Balletts, d. h. einer zusammenhängenden dramatischen Handlung,

*Cf. Bacon, Nov. Org. XXXVI und oft.

** Cf. Scherer, Litteraturgeschichte p. 770.

bei der nicht gesprochen wird, ist ein Akt poetischer Erfindung, also existiert in Aktion, in Tanz und Gebärde, ein poetisches Kunstwerk ohne Sprache. Andererseits beruht das gesprochene Drama nicht auf Sprache allein, es ist vielmehr ursprünglich immer ein aufgeführtes Drama, bei dem die Sprache nur einen Teil des Kunstwerks bildet, der sich, wenn die Musik zur Aktion und lebendigen Rede hinzukommt, noch verringert. Diese Auffassung steht mit den historischen Thatsachen im Einklang. Die deutsche mittelalterliche Lyrik ist gesungene Poesie; damit also das Kunstwerk in die Erscheinung trete, gehört hier die Musik, und vermutlich wird das Gebärdenspiel noch hinzugetreten sein, wie es noch heute bei der Deklamation sich einzustellen pflegt. Für die Poetik soll aber nur die kunstmäfsige" Anwendung der Sprache Gegenstand der Forschung sein, die anderen Ausdrucksmittel der Poesie dagegen nicht berücksichtigt werden.

Was aber ist kunstmäfsige“ Anwendung der Sprache? Um dieses zu beantworten, holt Scherer etwas weiter aus. Er untersucht die Natur der Urpoesie, soweit sie historisch ist, und greift drei Arten heraus: 1) das Chorlied, ein festlicher Tanz mit gesungenen Worten, vielleicht mit Instrumental begleitung verbunden; 2) das Sprichwort, eine blitzartig_sich entwickelnde Poesie, die durch Erinnerung an etwas Bekanntes, durch Unterordnung eines besonderen Falles unter einen allgemeinen Erfahrungssatz entsteht; 3) das Märchen, d. h. eine ungebundene Rede, eine prosaische Erzählung. Da haben wir also schon in der Kindheit der Poesie gebundene und ungebundene Rede. Auf einer höheren Stufe der Entwickelung nähern sich diese beiden Grundformen und es entsteht die gemischte Form, wie sie dem altnordischen (wahrscheinlich dem althochdeutschen überhaupt), dem mittelirischen, dem indischen Epos eigen ist. Was nun in irgend welchen Formen der gebundenen Rede abgefafst ist, gehört ohne weiteres zur Poesie, somit auch das Lehrgedicht, das Aristoteles aus ihr auszuschliefsen wünschte. Was aber von der ungebundenen Rede zu ihr gehört, ist schwieriger zu entscheiden. Von alters her ist das Märchen eine Gattung der Poesie. Im 15. Jahrhundert entsteht der prosaische Roman durch Auflösung höfischer Gedichte. In diesem und dem folgenden Jahrhundert greift der litterarische Gebrauch der ungebundenen Rede so weit um sich, dafs wir Gattungen ihr zufallen sehen, in der bisher die gebundene Rede geherrscht hat: kleine Erzählung, Märchen, Novelle, Anekdote werden litterarisch. Aus gereimten Lehrgedichten des Mittelalters (Freidank) werden im 16. Jahrhundert Sammlungen von Sprichwörtern, später solche von Reflexionen, Sentenzen, Aphorismen, der Essay, aus dem sich das Feuilleton entwickelt. Statt der gereimten Fabeln des Gellert pflegt Lessing die Prosafabel; es treten prosaische Hymnen (Novalis), prosaische Epopöen (Thümmels Wilhelmine) auf, und in den Psalmen haben wir gesungene Prosa! Überall liegt hier kunstmäfsige Anwendung der Sprache vor, aber auch in der Volksrede des Altertums, in der politischen Rede der Gegenwart, in der wissenschaftlichen Darstellung. Wo ist da die Grenze zwischen Poesie und Prosa? Scherer entscheidet: zur Poesie gehören: Lyrik, Epik und Dramatik, gleichviel ob in gebundener oder ungebundener Rede, die Novelle und das Märchen, der Roman wegen seiner nahen Verwandtschaft mit dem Epos, überhaupt alles dasjenige, was auf künstlerische, mit Anregung auf die Phantasie zum grofsen Teil identische (p. 31) Wirkung Anspruch erhebt. Demgemäfs ist ihm die Poetik vorzugsweise die Lehre von der gebundenen Rede, aufserdem aber von einigen Anwendungen der ungebundenen Rede, welche mit den Anwendungen der gebundenen Rede in naher Verwandtschaft stehen." Diese Definition wird später bei Betrachtung der einzelnen Dichtungsarten in dem Kapitel „Aufsere Form" näher präcisiert.

Es kann nicht unsere Aufgabe sein, den reichen Inhalt des Werkes auszugsweise mitzuteilen. Jeder, dem es ernst ist in diesen Dingen, wird es selbst studieren und, soviel er vermag, eine ausbauende, teilweise wohl auch ausbessernde Hand an dasselbe anlegen müssen. Doch sollen hier einige Punkte erwähnt werden, die sofortige Besprechung herausfordern. Bei den Erörterungen darüber, wie das Element des Unangenehmen in der Poesie zu erklären sei, die doch ursprünglich immer darauf ausgegangen ist, angenehme Vorstellungen: Vergnügen, Freude zu erregen, streift Scherer auch das berühmte Katharsisproblem der Tragödie. Was die Grundfrage betrifft, die Frage nach der Bedeutung von Katharsis“, so schliefst sich Scherer an Bernays an. Es handelt sich um die Befreiung von den Affekten Furcht und Mitleid durch Anregung derselben, um das Mitleid mit dem sympathischen Helden, um die Furcht vor ähnlichen Leiden, da wir als Menschen vor ähnlichen Fehlern, die es hervorgerufen, nicht sicher sind. Wodurch werden diese unangenehmen Gefühle angenehm? Bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, stützt sich Scherer auf einen von Bernays angeführten Brief Lessings an Mendelssohn (vom 2. Februar 1757), worin es heifst: bei jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung (Leidenschaft, Affekt) sind wir uns eines höheren Grades unserer Realität bewufst. Folglich fährt Lessing fort - sind alle Leidenschaften, auch die allerunangenehmsten, als Leidenschaften angenehm.“ Scherer setzt für Bewusstsein unserer Realität" - Freude an uns selbst", weist erläuternd auf die Freudenthränen des 18. Jahrhunderts hin, die man über seine eigene Vollkommenheit, darüber, dafs man des Mitleids, der Anteilnahme u. s. w. fähig ist, vergossen hat, und glaubt gefunden zu haben, was er sucht. Aber wo es sich um die Erklärung eines so Ursprünglichen, Elementaren, wie die Wirkung der Tragödie handelt, hat die Hindeutung auf etwas, was Scherer selbst (p. 108) pseudosittlichen Drang nennt, nicht die Kraft der Analogie, und dann bedenke man vor allem, dafs nicht alle Affekte gleichwertig sind. Spinoza* teilt sie bekanntlich in aktive und passive, in solche, durch welche das Thätigkeitsvermögen des menschlichen Körpers vergröfsert und befördert, und in solche, durch welche es verringert und gehemmt wird. Furcht und Mitleid aber, die doch in diesem Falle das höhere Bewusstsein unserer Realität, eine erhöhte Freude an uns selbst hervorrufen sollen, werden von Spinoza zu den passiven Affekten gezählt: sie sind Unlustempfindungen und erzeugen das Bewusstsein sich verringernder Vollkommenheit,* ** können also wenigstens keine höhere Lebensfreude bedingen, als die ist, welche wir im Zustande des psychischen Gleichgewichts besitzen. Hier also bleibt es bei dem, was Aristoteles und andere im Anschlufs an ihn gesagt haben.

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Die Frage, ob sich über das Verhältnis der Poesie zur Sittlichkeit feste Regeln aufstellen lassen, hält Scherer für unlösbar (p. 138). Aber doch wohl nur dem Scheine nach, denn seine Erörterungen hierüber, die wir in folgendem skizzieren wollen, lassen eine ziemlich sichere Konstruktion seiner wahren Meinung zu. Es ist einerseits festzuhalten, dafs die Poesie eine grofse sittliche Bildnerin, ein Haupterziehungsmittel der Völker ist, dafs sie unendlich viele Vorbilder des Guten, Grofsen und Edlen aufgestellt hat, andererseits aber die Theorie der Dichter selbst, die wie Goethe gar nicht, wie Zola indirekt sittlich wirken wollen, für den sittlichen Gehalt und die sittliche Wirkung ihrer Werke nicht mafsgebend ist. Denn wie wirkt Goethe? Doch gewifs sittlich erhebend. Wodurch wirkt er so? Dadurch, dafs er den lasterhaften Gestalten

*Cf. Spinoza, Eth. P. III, Def. 3.

** Cf. Ibd. Def. XIII, XVIII, dazu II, III.

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