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gebirge1 davon ertönten. Er war mehr finster als wild*. Der Philoktet des Pythagoras Leontinus2 schien dem Betrachter seinen Schmerz mitzuteilen, welche Wirkung der geringste gräßliche Zug verhindert hätte. Man dürfte fragen, woher ich wisse, daß dieser Meister eine Bildsäule des Philoktet gemacht habe? 5 Aus einer Stelle des Plinius, die meine Verbesserung nicht erwartet haben sollte, so offenbar verfälscht oder verstümmelt ist sie**.

III.

Aber, wie schon gedacht, die Kunst hat in den neuern Zeiten 10 ungleich weitere Grenzen erhalten. Ihre Nachahmung, sagt man, erstrecke sich auf die ganze sichtbare Natur, von welcher das Schöne nur ein kleiner Teil ist. Wahrheit und Ausdruck sei ihr erstes Gesez; und wie die Natur selbst die Schönheit höhern

*Plinius lib. XXXIV. sect. 19. **,,Eundem" (nämlich den 15 Myro), liest man bei dem Plinius (libr. XXXIV. sect. 19),,,vicit et Pythagoras Leontinus, qui fecit stadiodromon Astylon, qui Olympiae ostenditur: et Libyn puerum tenentem tabulam, eodem loco, et mala ferentem nudum. Syracusis autem claudicantem: cuius hulceris dolorem sentire etiam spectantes videntur 3." Man erwäge die leßten Worte 20 etwas genauer. Wird nicht darin offenbar von einer Person gesprochen, die wegen eines schmerzhaften Geschwüres überall bekannt ist?,,Cuius hulceris" usw. Und dieses cuius sollte auf das bloße claudicantem, und das claudicantem vielleicht auf das noch entferntere puerum gehen? Niemand hatte mehr Recht, wegen eines solchen Geschwüres bekannter zu sein 25 als Philoktet. Ich lese also anstatt claudicantem: Philoctetem oder halte wenigstens dafür, daß das leztere durch das erstere gleichlautende Wort verdrungen worden und man beides zusammen Philoctetem claudicantem Yefent miffe. Sophofles läßt ign στιβον κατ' ἀναγκαν έρπειν, und es mußte ein Hinken verursachen, daß er auf den kranken Fuß weniger herzhaft auf- 30 treten konnte.

1 Die Statue, die an der von Leffing in der Anmerkung bezeichneten Stelle von Plinius erwähnt wird, stellte den Herkules, von dem Gewand des Nessus umhüllt, dar, „mit schrecklichem Ausdruck und sein Ende fühlend"; Sophokles schildert in den „Trachinterinnen“, Vers 786-788, das wilde Geschrei des Leidenden mit den von Lessing angeführten Worten. 2 Der fälschlich Leontinus genannte Bildhauer Pythagoras lebte um 480 v. Chr. 3 Ihn übertraf auch Pythagoras Leontinus, welcher den Wettläufer Astylos darstellte, der zu Olympia steht, und den libyschen Knaben mit der Tafel, ebendaselbst, und den nackten Äpfelträger. In Syratus aber befindet sich sein Hinkender, dessen von einem Geschwür verursachten Schmerz die Betrachter [des Bildwerks] zu fühlen glauben." „Gewaltsam den Weg entlang schleichen."

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Absichten jederzeit aufopfere, so müsse sie auch der Künstler seiner allgemeinen Bestimmung unterordnen und ihr nicht weiter nachgehen, als es Wahrheit und Ausdruck erlauben. Genug, daß durch Wahrheit und Ausdruck das Häßlichste der 5 Natur in ein Schönes der Kunst verwandelt werde.

Gesezt, man wollte diese Begriffe vors erste unbestritten in ihrem Werte oder Unwerte lassen: sollten nicht andere, von ihnen unabhängige Betrachtungen zu machen sein, warum demohngeachtet der Künstler in dem Ausdrucke maßhalten und ihn 10 nie aus dem höchsten Punkte der Handlung nehmen müsse?

Ich glaube, der einzige Augenblick, an den die materiellen Schranken der Kunst alle ihre Nachahmungen binden, wird auf dergleichen Betrachtungen leiten.

Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur 15 nie mehr als einen einzigen Augenblick und der Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte brauchen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet zu werden: so ist es gewiß, daß 20 jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes nicht fruchtbar genug gewählet werden kann. Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzudenken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr 25 müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen Verfolge eines Affekts ist aber kein Augenblick, der diesen Vorteil weniger hat als die höchste Staffel desselben. Über ihr ist weiter nichts, und dem Auge das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden und sie nötigen, da sie über den sinnlichen Eindruck nicht 30 hinaus kann, sich unter ihm mit schwächern Bildern zu beschäftigen, über die sie die sichtbare Fülle des Ausdrucks als ihre Grenze scheuet. Wenn Laokoon also seufzet, so kann ihn die Einbildungskraft schreien hören; wenn er aber schreiet, so kann sie von dieser Vorstellung weder eine Stufe höher noch eine 35 Stufe tiefer steigen, ohne ihn in einem leidlichern, folglich uninteressantern Zustande zu erblicken. Sie hört ihn erst ächzen, oder sie sieht ihn schon tot.

Ferner. Erhält dieser einzige Augenblick durch die Kunst eine unveränderliche Dauer, so muß er nichts ausdrücken, was sich nicht anders als transitorisch1 denken läßt. Me Erscheinungen, zu deren Wesen wir es nach unsern Begriffen rechnen, daß sie plöglich ausbrechen und plößlich verschwinden, daß sie das, was 5 sie sind, nur einen Augenblick sein können; alle solche Erscheinungen, sie mögen angenehm oder schrecklich sein, erhalten durch die Verlängerung der Kunst ein so widernatürliches Ansehen, daß mit jeder wiederholten Erblickung der Eindruck schwächer wird und uns endlich vor dem ganzen Gegenstande ekelt oder 10 grauet. La Mettrie2, der sich als einen zweiten Demokrit malen und stechen lassen, lacht nur die ersten Male, die man ihn sieht. Betrachtet ihn öftrer, und er wird aus einem Philosophen ein Geck3; aus seinem Lachen wird ein Grinsen. So auch mit dem Schreien. Der heftige Schmerz, welcher das Schreien aus- 15 presset, läßt entweder bald nach oder zerstöret das leidende Subjekt. Wann also auch der geduldigste standhafteste Mann schreiet, so schreiet er doch nicht unabläßlich. Und nur dieses scheinbare Unabläßliche in der materiellen Nachahmung der Kunst ist es, was sein Schreien zu weibischem Unvermögen, zu 20 kindischer Unleidlichkeit machen würde. Dieses wenigstens mußte der Künstler des Laokoons vermeiden, hätte schon das Schreien der Schönheit nicht geschadet, wäre es auch seiner Kunst schon erlaubt gewesen, Leiden ohne Schönheit auszudrücken.

Unter den alten Malern scheinet Timomachus+ Vorwürfe 25 des äußersten Affekts am liebsten gewählet zu haben. Sein rasender Ajax, seine Kindermörderin Medea waren berühmte Gemälde. Aber aus den Beschreibungen, die wir von ihnen haben, erhellet, daß er jenen Punkt, in welchem der Betrachter das Äußerste nicht sowohl erblickt als hinzudenkt, jene Erschei- 30 nung, mit der wir den Begriff des Transitorischen nicht so notwendig verbinden, daß uns die Verlängerung derselben in der

1 Jm Augenblick entstehende und verschwindende Situation. 2 Das Bild des französischen Materialisten Julien Offray de La Mettrie (1707-51), ra diert von G. F. Schmidt, zeigt ihn mit lachendem, geöffnetem Munde. 8 Narr. 4 Timomachus aus Byzanz malte Heroenbilder, von denen Cäsar den „Ajax“ und die Medea" für 50 Talente kaufte und dem Tempel der Venus Genetrix weihte.

Kunst mißfallen sollte, vortrefflich verstanden und miteinander zu verbinden gewußt hat. Die Medea hatte er nicht in dem Augenblicke genommen, in welchem sie ihre Kinder wirklich ermordet, sondern einige Augenblicke zuvor, da die mütterliche 5 Liebe noch mit der Eifersucht kämpfet. Wir sehen das Ende dieses Kampfes voraus. Wir zittern voraus, nun bald bloß die grausame Medea zu erblicken, und unsere Einbildungskraft gehet weit über alles hinweg, was uns der Maler in diesem schrecklichen Augenblicke zeigen könnte. Aber eben darum beleidiget 10 uns die in der Kunst fortdauernde Unentschlossenheit der Medea so wenig, daß wir vielmehr wünschen, es wäre in der Natur selbst dabei geblieben, der Streit der Leidenschaften hätte sich nie entschieden oder hätte wenigstens so lange angehalten, bis Zeit und Überlegung die Wut entkräften und den mütterlichen 15 Empfindungen den Sieg versichern können. Auch hat dem Timomachus diese seine Weisheit große und häufige Lobsprüche zugezogen und ihn weit über einen andern unbekannten Maler erhoben, der unverständig genug gewesen war, die Medea in ihrer höchsten Raserei zu zeigen und so diesem flüchtig überhin20 gehenden1 Grade der äußersten Raserei eine Dauer zu geben, die alle Natur empöret. Der Dichter*, der ihn desfalls tadelt, sagt daher sehr sinnreich, indem er das Bild selbst anredet: ,,Durstest du denn beständig nach dem Blute deiner Kinder? Ist denn immer ein neuer Jason, immer eine neue Kreusa da, 25 die dich unaufhörlich erbittern?" - „Zum Henker mit dir auch im Gemälde!" sezt er voller Verdruß hinzu.

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Von dem rasenden Ajax des Timomachus läßt sich aus der Nachricht des Philostrats 2 urteilen**. Ajax erschien nicht, wie er unter den Herden wütet und Rinder und Böcke für Menschen

* Philippus (Anthol. lib. IV. cap. 9. ep. 10.):

Αίει γαρ διψας βρεφεων φονον. ή τις Ιησων
Δευτερος, ή Γλαυκη τις παλι σοι προφασις;
Εῤῥε και ἐν κηρῳ παιδοκτονε

** Vita Apoll. lib. II. cap. 22.

1 Vorübergehenden. 2 Die Gemäldebeschreibungen des älteren Flavius Philostratus, eines griechischen Sophisten des 2. Jahrh. n. Chr.

fesselt und mordet. Sondern der Meister zeigte ihn, wie er nach diesen wahnwißigen Heldentaten ermattet dasigt und den Anschlag fasset, sich selbst umzubringen. Und das ist wirklich der rasende Ajar; nicht weil er eben izt raset, sondern weil man siehet, daß er geraset hat; weil man die Größe seiner Raserei 5 am lebhaftesten aus der verzweiflungsvollen Scham abnimmt, die er nun selbst darüber empfindet. Man siehet den Sturm in den Trümmern und Leichen, die er an das Land geworfen.

IV.

Ich übersehe1 die angeführten Ursachen, warum der Meister 10 des Laokoon in dem Ausdrucke des körperlichen Schmerzes Maß halten müssen, und finde, daß sie allesamt von der eigenen Beschaffenheit der Kunst und von derselben notwendigen Schranken und Bedürfnissen hergenommen sind. Schwerlich dürfte sich also wohl irgendeine derselben auf die Poesie anwenden 15 lassen.

Ohne hier zu untersuchen, wie weit es dem Dichter gelingen kann, körperliche Schönheit zu schildern2, so ist soviel unstreitig, daß, da das ganze unermeßliche Reich der Vollkommenheit seiner Nachahmung offen stehet, diese sichtbare Hülle, unter 20 welcher Vollkommenheit zu Schönheit wird, nur eines von den geringsten Mitteln sein kann, durch die er uns für seine Personen zu interessieren weiß. Oft vernachlässiget er dieses Mittel gänzlich; versichert, daß, wenn sein Held einmal unsere Gewogenheit gewonnen, uns dessen edlere Eigenschaften entweder 25 so beschäftigen, daß wir an die körperliche Gestalt gar nicht denken, oder, wenn wir daran denken, uns so bestechen, daß wir ihm von selbst, wo nicht eine schöne, doch eine gleichgültige erteilen. Am wenigsten wird er bei jedem einzeln Zuge, der nicht ausdrücklich für das Gesicht bestimmet ist, seine Rücksicht dennoch 30 auf diesen Sinn nehmen dürfen. Wenn Virgils Laokoon schreiet, wem fällt es dabei ein, daß ein großes Maul zum Schreien nötig ist, und daß dieses große Maul häßlich läßt3? Genug, daß ,,clamores horrendos ad sidera tollit" ein erhabner Zug für das

1 Ich fasse in einem Überblick zusammen. — 2 Vgl. Abschnitt XX. 3 Steht. 4,,Er erhebt ein ungeheures Geschrei zum Himmel."

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