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Ein solches Suchen nun und Bestreben aus dem quälenden Uebergange heraus zu kommen, schließt, da es nicht empirisch, sondern theoretisch ist, also der Geschichte vorgreift, ähnlicher Weise wie jede nur metaphysisch gefundene Gefeßgebung, auch den Irrtum der idealisirenden Phantasie mit ein, und erscheint nur in der Form einer Utopie, über welche der nüchterne Verstand lächelt, weil ihm die Idee überhaupt das Unwahre ist, und weil er nicht auf den ganzen ungeteilten Geift der Menschheit, sondern nur auf deffen Sonderheiten sich beziehen kann.

So oft die Menschheit in einer Uebergangsperiode der Cultur stand, sind Utopieen aufgestellt worden, wie das ihre lange Reihe von der Republik des Platon bis zu der im Jahre 1840 erschienenen Reise in Icarien des Franzosen Cabet beweisen mag. Wir wollen dem Verstande das Recht nicht nehmen, sie allesammt lächerlich zu finden, wie wir ihm das Recht nicht bestreiten dürfen, auch die utopisch ideale Weltdichtung Christi als unrealisirbar zu verspotten. Für den ernsten und sinnvollen Forscher der Menschheit aber find solche Culturphantasteen immer bedeutende Grenzpunkte innerhalb der allgemeinen Ordnung der Civilisation, von denen aus die Vernunftzwecke und Processe der Weltentwicklung oft ein eigentümlich helles Licht empfangen.

Göthe's Wanderjahre darf man deshalb dreift an dergleichen philosophische oder poetische Ideale einer Organisation der Gesellschaft anreihen und sie neben Platon's Republik, das Utopien des Thomas Morus, die Sonnenstadt und das Messtasreich des Campanella, die neue Atlantis von Bacon und die Basiliade von Morelly stellen.

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Der Erste, welcher das Verhältniß der Wanderjahre zu den großen gesellschaftlichen Aufgaben der Gegenwart beziehungsweise ins Auge gefaßt und ihre Verwandschaft mit der Socialwissenschaft der Franzosen angedeutet hat, war Varnhagen von Ense in seinem kleinen Aufsaße: Im Sinne der Wanderer (im ersten Bande der Denkwürdigkeiten 1837). Was Varnhagen mit besonnener Klarheit dort von den Wanderjahren sagt, ist in Wahrheit weder sanguinisch überfliegend, noch durch das Prisma gesehen, und doch straft Gervinus seine Ansichten mit bittrer Rede als eine Verheißung des kommenden S. Simonianismus, welchen Varnhagen durch Göthe's Wanderjahre wolle geweifsagt wiffen. Denn jenen götheschen Saz: daß im Irdischen für jedes Mitglied der Gesellschaft ein richtiger Anteil am Besize und Genuffe der vorhandenen Güter gewährt werden müffe, verweist Gervinus zu den Chimäs ren, um welche wir uns „verständig wie wir sind", nicht in thörichter Voreiligkeit bemühen dürften; die zweite Forderung aber: im Gemütsleben, bei so vielem Unmöglichen, welches ewig versagt bleiben muß, das versagte Mögliche aus den zerbrechbaren Feffeln zu befreien, stellt er als ein ganz passives Wesen mit dem ersten zu einem doppelten Motto des Quietismus zusammen. (V. 638.).

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Nächst Varnhagen hat Karl Rosenkranz in seiner Abhandlung: Ludwig Tieck und die romantische Schule aus dem Jahre 1838 (abgedruckt in dem ersten Teile seiner Studien 1839) Andeutungen gegeben, daß es sich in den Wanderjahren um eine ideale Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens handle, welche Laube, der über die Beurteilung des Romans als Roman nicht hinausgeht, in seiner Geschichte der

deutschen Literatur (III. 416 ff.) abweisen zu müssen glaubte. Laube's Angriffe hat wiederum Rosenkranz (Göthe und seine Werke Königsb. 1847. S. 425 ff.) treffend zurückgewiesen und Mehreres über den. Socialismus der Wanderjahre hinzugefügt, was bei der Compendiosität seines aus Vorlesungen entstandenen Werkes leider nicht weiter ausgeführt werden durfte Schon vorher hatte Karl Grün im Jahre 1846 in seinem Buche: Ueber Göthe vom menschlichen Standpunkte mit der größeften Entschiedenheit die socialistischen Ideen Göthes in den Wanderjahren aufgefaßt. Erinnert man sich ferner, daß auchy George Sand eine Schrift über den. Socia lismus der Wanderjahre in Aussicht gestellt und ihrer Seits Bettina von Arnim dazu aufgefordert hat, so gibt dies Beleg genug für die tiefen und weit hinreichenden Berühruns gen Wilhelm Meister's mit der Philosophie der Gesellschaft, wie sie das neunzehnte Jahrhundert erzeugt hat.

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Indem ich nun zu dem Versuche übergehe, wesentlich die focialen Elemente, welche den ganzen Wilhelm Meister so tief durchdringen, daß er nicht anders als durch sie seine wahre charakteristische Lebensgestalt erhält, zu verfolgen, finde ich es unftatthaft, die Lehrjahre von der Betrachtung auszuschließen, haben sie gleich schon als Dichtung für sich eine fleißigere. Behandlung erfahren. Denn machen auch die Lehrjahre allein und an sich den Roman der ganzen Dichtung aus, so stehen sie doch in Beziehung auf das sociale Problem in solchem Verhältnisse zu den Wanderjahren, daß in ihnen die innerliche humane Vollendung des Einzel- Menschen erreicht wird, wie er darnach tüchtig sei, in das System der Gesellschaft einzutreten, deren Idealgestalt die Wanderjahre entwerfen.

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Wilhelm Meister's

Lehrjahre.

„Wir sind nicht blos Handwerkslehrlinge, wir find auch auf der Lehre im Menschenwerden; und in dem lezteren Metier sind die Lehrjahre beschwerlicher, als im ersteren."

Rousseau im Emil.

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